Leseprobe
aus Namenlose von Utz Rachowski
DER
LETZTE TAG DER KINDHEIT
Die Straße. Die Straße meiner Kindheit
ist eine Pflastersteinstraße mit unbefestigtem
Randstreifen. Wo die Randstreifen enden, beginnen
Felder. Wo die Felder enden, steht ein Ortsschild.
Auf ihm steht: Reichenbach im Vogtland.
Von
diesem Schild aus sind es noch etwa hundert Meter
bis zu einer Siedlung, die Stern-Siedlung heißt
und hell am Himmel meiner Kindheit steht.
Durch
sie führen drei Wege, die jedoch nicht Milchstraßen
heißen, wie man vielleicht denken könnte,
sondern Randweg, Mittelweg und Erich-Mühsam-Straße;
nach der letzten schließt sich eine Häusergruppe
an, die die Erwachsenen meiner Kindheit "die
SA-Siedlung" nannten, ein Name, der, wie ich
mir dachte, wohl mit ihrer Kindheit zu tun hatte.
Aber
ich wohnte in der Stern-Siedlung. Der Mittelweg
teilte sie in zwei Teile und führte, wie sein
Name besagt, mitten hindurch. Gärten zu beiden
Seiten, Wiesen, die grün im Schatten hoher
Apfel- und Birnbäume lagen, vielfarbige Zäune
und dicht gewachsene Sträucher, Johannisbeere,
schwarz oder rot, und Stachelbeerbüsche ermutigten,
über die kleinen, niedrigen Zäune zu langen.
Blumenbeete,
Astern, Tulpen, Löwenmaul, und auf den Wiesen
vereinzelte Krokusse und Schneeglöckchen begleiteten
den Blick durch die kurze Jahreszeit meiner Kindheit.
Und
es gab eine Vielzahl kleinerer Hunde; Foxe, Pudel
und langhaarige Dackel, die laut bellend an der
Innenseite der bunten Zäune entlangliefen,
um am Ende der Gärten, wo der Zaun jeweils
einen Knick machte, dem Vorübergehenden wehmütig
und schwanzwedelnd nachzuheulen, als wollten sie
sich bei ihm für ihr wildes Gebell entschuldigen
oder begreiflich machen, dies sei lediglich als
freundliches Geleit in eine paradiesische Gegend
zu verstehen gewesen. Vom Mittelweg ab, zwei Meter
nach rechts, der dritte Garten, der mit dem gelben
Ginsterstrauch und dem Pflaumenbaum an der Ecke,
gehörte meiner Großmutter.
Ein
rotes Gartentor aus zusammengeschweißtem Metallrohr,
an dessen Klang, wenn es von mir zugeschlagen wurde,
ich mich genau erinnere, führte hinein.
Der
Weg aus Steinplatten, doppelreihig, dann rechts
wieder Blumenbeete, ein Fliederbaum, zwei Büsche
Pfingstrosen, dahinter ein Holzschuppen, dunkelbraun
gefirnisst, der anliegende Hühnerstall, ein
Kirschbaum, die Wiese, Apfelbaum, Astern, Tulpen,
Löwenmaul, vielleicht ein weißer Krokus
im März; wer jetzt über den Zaun nach
außen stiege, würde auf dem Mittelweg
stehen und wäre im Kreis gegangen.
Manchmal,
wenn ich von der Schule kam, mich schnell an den
Tisch setzte, nachdem ich die Schultasche unter
die Eckbank geworfen hatte, servierte meine Großmutter
eine ihrer Spezialitäten. Kirschschale zum
Beispiel: Gestampfte Kirschen mit Milch und rotem
Zucker. Oder Mohnsemmeln, das Geheimrezept: Wasser
und Mohn in einem Steintopf Mit einem Holzstößel
lange und kraftvoll verreiben, bis sich auf der
Oberfläche des Breis eine milchige Schicht
bildet. Dann gab meine Großmutter einige Weißbrotstücke
in den Topf und stellte ihn auf die Kellertreppe;
dort musste er noch einen Tag lang stehen.
Ich
sitze am Fenster auf der Bank. Ich kann, wenn ich
hinausschaue, eine Ecke vom Garten sehen, den Fliederbaum,
die beiden Büsche, an denen Ende Mai die Pfingstrosen
blühen. Dahinter die Johannisbeersträucher,
Tulpen, Astern, Löwenmaul sehe ich nicht, aber
ein Stück vom Zaun, dahinter den Mittelweg,
auf dem vielleicht gerade Herr Schimmack spaziert.
Schimmack mit kurzen, grauen Haaren und einer Brille.
Im offenen Hemd, in knielangen, grünen Lederhosen,
Knickerbockern und langen, großgemusterten,
schwarzroten Strümpfen, die in ebenfalls grünen
Sandalen stecken. Auf offener Straße.
"Ist
die Kacke noch so locker, nichts geht durch die
Knickerbocker" - ist mir verboten zu rufen.
Auf offener Straße und Schimmack nach. Der
Schneider, sagt meine Großmutter. Und ich
weiß, einmal hat Schimmack eine Hose für
meinen Großvater gemacht, ein Großvater,
zu dem ich nie "Opa" sagte und der tot
ist, gestorben nach einer Operation, an einem "Blutgerinnsel",
wie meine Großmutter sagt. Ich habe keine
Erinnerung mehr an ihn, aber ein handtellergroßes
Stück einer graugrünen Kreide, mit dem
Schneider Schimmack einst bei meinem Großvater
Maß genommen, verwahre ich noch auf dem Grund
meiner Schultasche. Und weiß eigentlich nicht,
wem ich dieses stumme Relikt zu danken habe, ob
dieses Stück graugrüner Kreide eher meinem
Großvater oder dem Schneider Schimmack zuzurechnen
ist. Diese beiden, mit ihren unklaren Geschichten.
Blutgerinnsel. Und bei Schimmack etwas von einem
Beil, mit dem er gegen die Polizei aufgetreten sein
soll und anschließendem Gefängnis. Wie
gesagt, unklare Geschichten. Aber Schimmack, von
dem meine Großmutter "der Schneider"
sagt, geht jetzt auf dem Mittelweg hinter den Johannisbeersträuchern
entlang. Wozu, weiß ich nicht, vielleicht
um ein Schneider zu sein. Großmutter mit ihren
Geschichten. Klarer dann schon die über meinen
Ur-Großvater, der vor sehr langer Zeit (da
waren meine Mutter und mein Vater noch Quark im
Schaufenster, wie meine Großmutter sagt),
der also damals in einem Land, das Polen heißt,
nachts auf einen riesigen Schornstein gestiegen
sein soll, um dort oben eine rote Fahne zu hissen.
Ganz allein. Und beim Runtersteigen hat er die Stufen
der Eisenleiter mit Schmierseife eingerieben, um
zu verhindern, dass die Polizei die Fahne wieder
abreißt. Solche Geschichten erzählt meine
Großmutter und rührt Kirschschale oder
Mohnsemmeln. Die rote Fahne hat meinem Ur-Großvater
damals einen fünfjährigen Aufenthalt in
einem - nun wieder ganz anderen Land, das Sibirien
heißt, eingebracht. Doch an dieser Stelle
wird meine Großmutter immer ganz still und
sagt etwas von "verstehst du sowieso nicht".
Und zuerst dachte ich, dass das wohl mit diesem
anderen Land zusammenhängen würde, aber
einmal belauschte ich ein Gespräch zwischen
meinem Vater und der Großmutter, aus dem ich
entnahm, dass mein Großvater zur Zeit der
großen russischen Revolution im Februar 1917
- nicht zu verwechseln mit dem Oktoberputsch - von
einigen Bekannten in Petersburg gesehen worden war.
Er musste also vorzeitig aus diesem Land Sibirien
entlassen worden sein, war aber nicht zurückgekommen.
Die Bekannten berichteten, wie er am hellen Tag
durch Petersburg geschlendert sei, laut pfeifend,
sagten sie, dazu noch an jedem Arm eine Dame. Nutten,
wie meine Großmutter sagt. Ob er jedoch deshalb
in Petersburg geblieben war oder wegen dieser Revolution
dort, sagte sie nicht. Das scheint auch für
meine Großmutter unklar zu sein. Ich konnte
lauschen, soviel ich wollte, mit dieser Frage endete
jedes Gespräch über meinen Ur-Großvater.
Klar blieb nur, dass er nie wieder nach Hause kam,
auch wenn, wie ich erfuhr, "zu Hause"
damals Polen war.
Noch
eine Geschichte?
Und später, ich weiß nicht, wie viele
Tage oder Jahre vergangen waren, denn Kindheit ist
eine Zeit ohne inneres Maß, hörte ich
am Morgen ein Geräusch, das schon in der Nacht
aufgekommen war und auch jetzt nicht mehr zu enden
scheinen wollte.
Ich
fand das Bett meines Bruders leer, und als ich nachsah,
auch den braunen Holzschuppen, wo sonst sein Motorrad
stand. Ich zog mich an und lief auf die Straße,
meine Großmutter hatte mich zum Bäcker
geschickt, um Brötchen zu holen. Und ich war
glücklich, denn es waren Ferien, und die noch
flach stehende Sonne versprach einen heißen
Tag.
Ich
rannte den Mittelweg entlang, einer der Hunde aus
den drei Gärten vollzog sein gewöhnliches
Ritual und blieb dann winselnd hinter dem Zaun zurück.
Ich
kam an die Straße meiner Kindheit, die Pflastersteinstraße
mit unbefestigtem Randstreifen - und blieb stehen.
Denn alles war stehen geblieben. Schimmack stand
dort. Die Umsiedlerinnen waren stehen geblieben.
Der Raps stand gelb, aber anderswo. Der Sommer war
nicht mehr blond. Die Badeanzüge blieben an
einer Erinnerung hängen und standen fest. Und
etwas anderes stand fest, blieb zurück und
war stehen geblieben, dort an der Straße,
an diesem Tag, etwas, was von nun an Kindheit heißen
und hinter mir liegen würde.
Denn
sie allein bewegten sich. Auf meiner Straße.
Rollten weiter. Fuhren fort: Panzer mit aufgepflanzten
Maschinengewehren, Lastwagen und Geschütze,
Schützenpanzer und Feldküchen.
Sie
waren ein endloser Strom, der schleppend unter einer
gelben Glocke aus Staub vorwärts kroch.
Ich
stand noch eine Weile still, ging dann aber langsam
weiter, an Häusern vorbei, immer an dieser
Straße entlang.
Zwei
Mädchen aus meiner Klasse, Sonja und Ruth,
sahen mich und liefen mir entgegen. Was ist denn
los, riefen sie, durften wir deshalb in den Wäldern
keine Pilze suchen, obwohl wir Ferien haben?
Nein,
diese Soldaten waren heute nicht freundlich und
wollten keine Adressen tauschen, ganz anders als
die von der Pateneinheit unserer Schule, die mittwochs
manchmal zum Gruppennachmittag gekommen waren und
russische Lieder sangen. Da lachte ich und ging
weiter, denn etwas war vor ein paar Augenblicken
stehen geblieben, und ich hatte mich umgedreht und
wusste seither den Namen.
Ich
ging weiter und kam an einem Haus vorbei, in dem
der Direktor unserer Schule wohnte; ich sah ihn
im weit geöffneten Fenster in der zweiten Etage
des Hauses stehen, in jeder Hand ein rotes Papierfähnchen,
die er wie wild schwenkte. Rufe der Begeisterung
mussten aus seinem Mund gekommen sein, die jedoch
sogleich vom Klirren der Panzerketten verschluckt
wurden.
Ich
ging eng an der Hauswand entlang, so, dass mich
der Direktor nicht sehen konnte, und als ich nach
oben blickte, sah ich nur noch seine Arme und Hände
mit den roten Fähnchen und wie sie sich dem
Strom und der gelben Staubglocke entgegenstreckten.
Andere
Hände müssen es gewesen sein, dachte ich,
und eine andere Fahne, die mein Ur-Großvater
einst in schwindelnder Höhe befestigt hatte.
Nicht diese Schulkreidefinger, nicht dieses Zensurenrot.
Das
nicht, das wusste ich jetzt, seit ich mich nach
dem umgewandt hatte, was meine Kindheit gewesen
ist.
Aber
ich ging weiter, noch an zwei Häusern vorbei,
und öffnete dann die Tür zum Bäckerladen.
Außer einer Verkäuferin und mir war niemand
sonst in diesem Geschäft, denn alle waren sie
stehen geblieben.
Ich
kaufte fünf Brötchen und drei Stück
Mohnkuchen, für meine Großmutter, meinen
Bruder und mich, bezahlte, und verließ den
Laden.
Auf
der Treppe der Bäckerei geriet ich wieder unter
die Wolke aus gelbem Staub, roch den schwarzen,
verbrannten Diesel, sah zu den Fahrzeugen hinüber
und - wäre beinahe gestürzt. Ich sah ihn!
Er saß auf dem schwarzen Motorrad, mitten
in dieser unendlichen Panzerkette, mitten auf der
Straße. Ich sah in das Gesicht meines Bruders,
sah die schwarzen Haare, den Bart und die Augen,
seinen Mund, um den ein Ausdruck zwischen Entsetzen
und Freude lag; sein rotes Hemd mit hochgekrempelten
Ärmeln, als würde eine schwere Arbeit
zu verrichten sein.
War
das die Fahne? Fuhr mein Bruder deshalb hier, oder
wollte er sich nur einen Spaß machen. Und
unter welcher Fahne fuhren die Panzer? Hatte er
deshalb sein rotes Hemd angezogen, wollte er sich
lustig machen über sie oder mit ihr diesen
Vormarsch aufhalten, der der Krieg war?
Und
ich sah, wie zwischen meinem Bruder und dem Panzer,
der vor ihm über das Pflaster schlug, bereits
ein größerer Abstand entstanden war.
Der nachfolgende Panzer blieb jetzt schon fünfzig
Meter zurück. Ich sah, wie mein Bruder seinen
Oberkörper aufrichtete und sich zu dem Panzer
hinter sich umwandte, dessen Kommandant in einer
unverständlichen Sprache schrie. Ich sah, wie
der Kommandant seine Pistole aus dem Gurt riss und
einen Befehl gab. Wie der Panzer anzog und auf meinen
Bruder zusprang. Wie mein Bruder Gas gab und nach
fünf Metern eine Vollbremsung machte. Wie Sand
aufflog und die Ketten auf dem Pflaster kreischten.
Wie der Panzer ins Leere stieß und mein Bruder
lachte. Wie Kommandos ausgeführt wurden von
unsichtbaren Fahrern. Wie eine sichtbare Fahne gegen
eine graue Schlange aus Metall kämpfte, die
unter einer Fahne fuhr, die unsichtbar blieb. Wie
mein Bruder unter der Staubglocke verschwand. Wie
die graue Schlange weiterrollte. Wie die Fahne von
ihr gejagt wurde und nicht mehr zu sehen war. Wie
sie besiegt schien. Wie die Panzer erneut zum Stehen
kamen und Motoren leer liefen, als hätte einer
Sand in sie geschüttet.
Ich
griff mein Netz mit den Brötchen fester und
lief, so schnell ich konnte, die Straße hinab
zur Stern-Siedlung, zum Mittelweg, zum Haus meiner
Großmutter.
Die
Fenster des Direktors standen noch immer offen.
Ich sah nach oben. Er ragte aus dem Fenster, noch
immer mit weit ausgestreckten Armen, seine Hände
hielten die Fähnchen aus Papier, die nicht
mehr flatterten, herabhingen, als gäbe es dort
oben eine Windstille. Sein Blick war leer und auf
die Straße gerichtet.
Die
beiden Mädchen aus meiner Klasse traf ich nicht
mehr, und auch alle anderen waren verschwunden.
Keiner hatte gewartet, niemand war stehen geblieben,
keiner würde dabei gewesen sein, als die Fahne
zu sehen war.
Meine
Großmutter kam mir ein paar Schritte entgegengelaufen
und hatte sich wegen meines langen Ausbleibens Sorgen
gemacht. Ich lief auf sie zu und rief: "Großmutter,
er hat die Panzer aufgehalten! Verstehst du, mit
dem Motorrad!"
Ich
sah, wie meine Großmutter weiß wurde
wie die Wand ihres Hauses, vor dem wir standen.
Auf
die von der Sonne dieses heißen Tages beschienene
Mauer fielen jetzt zwei Schatten von unterschiedlicher
Größe, die sich aneinandergelehnt hatten.
Mein
Bruder kam am Abend wieder. Wir hörten sein
Motorrad, dann schlug das Gartentor zu. Mit unvergesslichem
Klang. Mein Bruder ließ seine Maschine gegen
den Holzschuppen fallen. Wir sahen ihn ins Haus
kommen. Er stürzte in die Küche, schwankte
ein wenig und riß sich das Hemd über
der Brust auf. Sein Gesicht war schwarz. Wir sahen
drei Wunden auf seiner Brust, aus denen Blut lief.
Draußen auf der Straße schwoll das Klirren
der Panzerketten wieder stärker an.
Die
Brust meines Bruders war von drei Stichen bedeckt.
Eine verirrte Wespe mußte, während er
zwischen den Panzern fuhr, unter sein Hemd geflogen
sein. Denn es war Sommer, ein heißer Tag,
an dem meine Kindheit zu Ende ging. Es war Dienstag,
der zwanzigste August neunzehnhundertachtundsechzig.
In
der darauf folgenden Nacht überschritten, unter
anderem in der Höhe von Vogtland und Erzgebirge,
500 000 ausländische Soldaten die tschechoslowakische
Grenze.
Die
Straße meiner Kindheit ist eine Pflastersteinstraße
mit unbefestigtem Randstreifen und geht zu beiden
Seiten in Feld über.
1983/84
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